BerthavonSuttner

Der Dithmarscher Pastor und Schriftsteller Gustav Frenssen (1863-1945), feierte im Kaiserreich als Vertreter der „Heimatkunst“ literarische Erfolge („Jörn Uhl“ (1901)) und zählte 1912 zu den aussichtsreichsten Kandidaten für den Literaturnobelpreis. Schon früh sind in seinen Aufzeichnungen jedoch radikale Ideen der Eugenik und Euthanasie festzustellen, die er ab Mitte der 1920er Jahre öffentlich kundtat („Möwen und Mäuse“ (1927)). Im Nationalsozialismus als „Vorkämpfer“ gefeiert biederte sich Frenssen den Machthabern an, vergötterte Adolf Hitler und rechtfertigte Krieg und Massenmorde. Im März und April 2014 beschlossen die Städte Heide und Brunsbüttel die Umbenennung der nach Gustav Frenssen benannten Straßen. Dieser Blog dokumentiert und kommentiert Frenssens menschenverachtendes Gedankengut und die öffentliche Diskussion über seine Person.

(Bild rechts: Gustav Frenssen - Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-S42619 über wikipedia.de)

Mittwoch, 15. Januar 2014

„Wenn er stürbe, wäre ein Wertloser weniger.“ - Frenssens „Tagebuch der Amtmannschaft Wittschild“ (1923)

Im dritten Band der „Grübeleien“ (Vorland), der Frenssens Notizen der Jahre 1920-1935 enthält, findet sich ein fiktives Tagebuch aus dem Jahr 2023. Frenssen führt den Leser folgendermaßen darin ein:
Da ich immer noch nicht erkannte, wozu zwei Millionen junge Deutsche gefallen sind [Anm.: im 1. Weltkrieg], und wieder weggeführt wurde, und im Träumen in Jahre, die noch nicht sind, sah ich den Amtmann, wie er an seinem Tisch saß und schrieb. Und er schrieb:“ (S. 49)
In dieser Notiz, die das längste Stück in „Vorland“ ist (S. 49-70), zeichnet Gustav Frenssen eine für uns erschreckende Vision eines Deutschlands in hundert Jahren, das von staatlichen Zwangsmaßnahmen von Euthanasie und Eugenik bestimmt ist, mit Massenmord und Menschenzucht. Zehn Jahre vor Beginn der nationalsozialistischen Diktatur und vermutlich auch einige Jahre bevor Frenssen überhaupt in der damaligen Splitterpartei der NSDAP und Adolf Hitler die Verwirklicher seiner rassistisch-biologistischen Visionen erkennen würde, zeichnet er hier unabhängig vom späteren Gang der Geschichte das Bild einer Gesellschaft, die streng nach dem „göttlichen, biologischen Gesetz“ geordnet sein solle. Hier sehen wir schon im Jahre 1923 bei Frenssen jene Ideologie, die er 1942, nun vor dem Hintergrund der real begonnenen Vernichtung von „lebensunwerten Leben“, nochmals in einem Werk („Lebenskunde“) kundtat.
Die hier folgenden Fallbeispiele (A bis H), die er im „Tagebuch“ bringt, beschränken sich auf den Bereich der Aussagen zu Euthanasie und Eugenik. Frenssen lässt in dem Abschnitt aber den Amtmann auch das Schulwesen (starke und frühe Differenzierung nach den Erbanlagen der Kinder; kürzer Schul-, Lehr- und Universitätszeit, damit spätestens mit 22 Jahren das „zeugen und gebären“ beginnen kann; „Dem ganzen Schulwesen liegt die angeborene germanische Frömmigkeit zugrunde.“ (s. Seite 53-56 (12. Januar)), das Rechtswesen (scharfe, schnelle Urteile nicht aufgrund von Paragraphen, sondern nach „Ehre und Billigkeit“ durch einen „ernsten, lebenswahren Mann“; auch über sog. „sittliche Scheusäligkeiten“ (s. S. 62ff.)) und die Religion vorstellen („15. April: Frühlings- und Ostertag“ (s. S. 67-70)).
[A]
3. Januar. Heute ist der neugeborene Sohn des Bauern Tees im Krankenhaus in Meldorf, nach gemeinsamem Beschluß des Kreisrichters, des Kreisarztes, des Vaters und meiner, vom Leben zum Tode gebracht, da er, wie die Kopfform erwies, am Gehirn ein Krüppel war.“ (S. 49)
[B]
11. Januar. Heute habe ich der dreißigjährigen ledigen Lisa Beer aus der Sippe der Wennemannen, die als biologisch wertvoll in den Listen steht, vom Richter und Kreisarzt den Befehl überbracht, noch in diesem Jahr ihr erstes Kind zu gebären und in den nächsten fünf Jahren weiteren zwei Kindern das Leben zu geben, widrigenfalls sie vorläufig auf ein Jahr zu dem harten Dienst im Arbeitslager in T. eingeliefert würde. […] Als ich fragte, ob sie keine Gelegenheit hätte zu heiraten, gab sie zu, daß sie die wohl gehabt hätte; aber nicht mit einem Mann, den sie liebte. […] Sie wird also Kinder haben. […] Nach dem Vater ihrer Kinder, wenn sie ihn nicht selber kund gibt, wird sie nicht gefragt werden.“ (S. 51)

[C]
1. Februar. […] Indem ich in den alten Tagebüchern der Amtsmannschaft blättere, finde ich die Eintragung des ersten Vorgängers 1923, das ist vor genau hundert Jahren: „Als ich das Amt übernahm, war es schon seit fünfzig Jahren Brauch […], daß die geistig Hellen und Verantwortlichen mit den Geburten zurückhielten und bei weitem nur die dumpfen und wirtschaftlich Verantwortungslosen sich vermehrten.“ / […] Nun ist alles anders: In meiner Amtsmannschaft sind in drei Geschlechterfolgen sieben Blutlinien, die seit drei oder vier Generationen nur eine Last für die Gemeinschaft waren, durch Unfruchtbarmachung ausgelöscht, ebenso viele Wertarme in ihrer Zahl beschränkt. / […] So wie der Staat von jeher verlangt hat, daß die Menschen, wenn es nötig, für ihn starben, so verlangt er jetzt endlich auch, daß sie für ihn erzeugen und gebären. […] Die Unsozialen, aber im übrigen Wertvollen, werden durch harte Strafen auf den Schwung gebracht. Die Kinder, die nun in den Dorfstraßen spielen […] sind gesund, und wenn nicht alle hell, so doch alle ernst und gutwillig.“ (S. 57-59)

[D]
28. Februar. Gestern der Oberrichter in meinem Amtshause zum Großgericht. / […]
Zuerst wurde, in einer Geheimsitzung mit dem Amtsarzt, über einen vierzehnjährigen Jungen verhandelt, der von Kind an am liebsten von „Gurgel abschneiden“ redete und vor eini- / gen Wochen eine Spielkameradin zu vergewaltigen und zu erdrosseln versucht hat. Da nach allen Erfahrungen anzunehmen ist, daß er, geschlechtsreif geworden, auch vielleicht sein krankes Erbe fortpflanzen wird, wird erwogen, ob er ausgelöscht werden soll. Er wird entmannt werden und kommt in Schutzhaft.“ (S. 59-61)
[E]
Danach wurde verhandelt über den dreiundzwanzigjährigen ledigen gewohnheitsmäßigen Herumtreiber Tees Tamm. Das Urteil schwankte zwischen Tod und lebenslänglicher Zwangsarbeit. […] Jetzt wird so ein Mensch entweder ausgelöscht oder, falls er zur Arbeit brauchbar ist, lebenslänglich in Zwangsarbeit getan. In der ersten Zeit, vor achtzig Jahren [fiktiv: 1943] wurden sehr viele ausgelöscht. […] Auch in dem gestrigen Fall wurde auf Entmannung und lebenslängliche Zwangsarbeit erkannt.“ (S. 62)

[F]
7. März. […]
Die Sechzigjährige Anna Bande, welche die unheilbare Krankheit, die sie befallen hat nicht mehr ertragen / kann und will, hat nach dem Beschluß, dem er Kreisarzt, der Adelsmann und ich beiwohnten, im Krankenhaus Gift bekommen, das ihr Leben geendet hat. Der fünfzigjährige Lehrer Thade, der an erblicher und unheilbarer Schwermut leidet und dieselbe Bitte geäußert hat, wird sicher auch erhört werden.“ (S. 65-66)
[G]
Am selben Tag. Da ich in den Itzehoer Nachrichten blättere, die vor hundert Jahren erschienen sind, lese ich in einer Nummer die Überschrift: „Gesteigerte Nachfrage nach holsteinischen Hengsten“. Damals gab es, unbegreiflicherweise, nur für Vieh und Korn Zucht und Zuchtverordnungen. Heute erzählt mir der Kreisarzt, daß drei junge Leute, Schleswiger, von guter Rasse, dem Zustand eines kleinen Dorfes in ….., aus dem zur Zeit infolge Inzucht drei Idioten und vier Irre am Leben sind, ein Ende machen sollen.“ (S. 66)

[H]
10 März. […] Der junge Dammer, der wegen wiederholten Betruges – er betrügt aus angeborner Sucht und Arbeitsscheu – im Zwangsdienst ist, hat durch Vermittlung des dortigen zuständigen Adelsmannes wegen Kränklichkeit um seine Befreiung gebeten, sonst müßte er sterben. Der Richter hatte dem Adelsmann, den er weichlich schalt, geantwortet: Wenn er stürbe, wäre ein Wertloser weniger. Der Oberrichter hatten diesen Bescheid gebilligt.“ (S. 67)

Die Einzelfälle die Frenssen aufzählt sind fast immer eindeutig: Man sieht es den geschilderten Menschen äußerlich an, bzw. ihr Verhalten lässt zweifellos darauf schließen, dass sie „wertlos“ sind. Die Art des tatsächlich oder auch nur vorauszusehenden „Vergehens“ (A, D) ist dabei oft weniger ausschlaggebend als dessen „erblich“ bedingte Ursache: Was er diagnostiziert ist in der Regel „angeboren“ (A, D, H) und „gewohnheitsmäßig“ (E),, daher aus rassistischer Sicht unveränderbar. Die Strafen sind entsprechend, wie bei „unheilbar Kranken“ (F), klar: Der sofortige Tod (A), Sterilisation (C, D, E), auch meist verbunden mit (lebenslanger) Zwangsarbeit im Lager (D, E), bei der ein frühzeitiger Tod keineswegs ungewollt, sogar eher erwünscht ist (H). [Im späteren NS-Regime: „Vernichtung durch Arbeit“].
Auf der anderen Seite steht die Menschenzucht (G), mit der Verordnung zur Schwangerschaft (B). Frenssen verurteilt - im Gegensatz zur bürgerlichen Gesellschaft jener Zeit nicht die Schwangerschaft von unverheirateten Mädchen und Frauen (so sie denn „gutes Erbe“ haben), die im NS-Staat später u.a. durch das sog. Lebensborn-Programm gefördert wurde.
An Umerziehung glaubt er aufgrund seiner biologistisch-rassistischen Ansichten wenig (C). Ziel sei die „Aufwertung“ der Bevölkerung durch Zuchtauswahl.

Was Gustav Frenssen hier ausführte ist viel früher Realität geworden, als er – und wohl die meisten anderen – es sich vorstellen konnten (nicht ab 1943, sondern schon ab 1933)). Obschon Frenssen „Vorland“ erst im Jahre 1937 veröffentlichte, zeigen sie doch wie weit gediehen seine menschenverachtenden Ansichten, bereits Anfang der 1920er Jahre gediehen waren. Frenssen ist zwar kein Vorläufer oder Vorbereiter solcher Ideen, die in und außerhalb der „Völkischen Bewegung“ schon Jahrzehnte früher ihre Heimat hatten, er hat sie aber aktiv gefordert und propagiert.

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