Die „Lebenskunde“
genannte Schrift Frenssens ist eine Rechtfertigung für die
(Massen)Tötung von „minderwertigem, lebensunwertem Leben“
((Zwangs)Euthanasie (griechisch: „Schöner Tod“)) und
Menschenzucht (Eugenik). Für Frenssen sind dies Bestandteile und
Verpflichtungen des „göttlichen Gesetzes“, das der
Gesunderhaltung und dem Überleben der eigenen, germanischen „Rasse“
diene. In Lebenskunde will er einen Leitfaden geben, wie das
„Germanentum“ seiner biologischen Natur gerecht werde und läßt
keinen Zweifel daran, daß dies unter Hitler und dem
Nationalsozialismus auf beste Weise verwirklicht werde. Frenssen
machte die radikalen und menschenverachtenden Endziele des
Nationalsozialismus in dieser Schrift deutlich. Mit seiner Offenheit
war er sogar in Konflikt mit der offiziellen Position der NSDAP
geraten, die bemüht war ihre verbrecherischen Absichten und Taten
eher zu verschleiern.
Die folgenden
kommentierten Auszüge sollen die deutlichsten Aussagen wiedergeben:
„Ich meinte auch, jedermann müsse
gut sein, ohne Ende und Grenze, und man müsse jedem Unglücklichen
und Armen bis zum letzten Brot und Hemd beistehn. Wenn man so zu
ihnen wäre, meinte ich, fänden sie sofort den Weg zu Fleiß,
Ordnung und Wirtschaftlichkeit, zu allem Guten. Obgleich ich wohl
sah, daß sich oft gut mit schlecht verheiratete, und, wenn auch der
eine Partner fast ein Krüppel war, reich mit reich, meinte ich, daß
alle Ehen ohne Ausnahme von Gott gestiftet wären, der es ja immer
gut meinte, der ja immer ein Schenkender war. Wenn dennoch die
Scherben bis auf die Straße flogen, hätten böse Geister ihr Spiel;
die Menschen wären unschuldig.“ (S. 6f.)
Frenssen blickt
hier auf seine Zeit als evangelischer Pastor in Hemme und Hennstedt
zurück (1890-1902). Er macht gerade für diese Zeit den vermeintlichen Beginn einer Verschärfung diese schlechten Entwicklung aus:
„Diese Jahrhunderte lange,
gedankenlose Nichtachtung hat sich in den letzten fünfzig Jahren in
eine bewußte, widernatürliche und also widergöttliche Mißachtung
und offenbares Verbrechen gegen die göttliche Natur gewandelt. Denn
während dieser letzten Jahrzehnte ist, aus sogenannten humanen
Gründen (die den biologischen Gesetzen feindlich und also
widergöttlich sind) alles Erbkranke mit mehr Sorgfalt gepflegt
worden als das Gesunde. Es ist auch in keiner Weise verhindert
worden, daß es sich fortpflanzte. Und was noch folgenschwerer ist:
die körperlich und geistig Gesunden (welche zugleich die
Verantwortlichen und Wirtschaftlichen sind), haben die Erzeugung von
Nachkommen künstlich gehindert.
Und so haben sich seitdem die Kranken und Unverantwortlichen weit
mehr vermehrt als die Gesunden und Verantwortlichen.“ (S. 51f.)
Frenssens Kritik
gehört in die Tradition des
Sozialdarwinismus: In
Konservativ-elitären Kreisen des Kaiserreiches (1871-1918)
propagierte man, daß die mit der Industrialisierung einsetzende
Auseinanderentwicklung der höheren Geburtenraten der niederen
Schichten der Arbeiter (des Proletariats) und die gleichzeitig
niedrigere Geburtenrate der oberen Gesellschaftsschichten zu einem
rassischen Verschlechterung und dem Niedergang des Volkes führen.
Überzeugt von der Unbestechlichkeit der Rassenmerkmale, die nicht
durch Bildung und Erziehung überwunden werden könnten, wurden im
Nationalsozialismus radikale Programme durchgeführt, die sich gegen
die Ausbreitung der „Asozialität“ richteten. Frenssen beschreibt
und empfiehlt diese im folgenden:
„Diese
Todesgefahr unsres Volkes zu beseitigen, müssen die, welche krankes
Erbe haben, unfruchtbar gemacht werden, damit sie dies ihr Erbe nicht
weiter fortsetzen und vermehren. Solche Kranke sind: die in dritter
Generation erblich körperlich oder seelisch Schwächlichen und
Verkrüppelten. Ferner, die sich schon in der dritten Generation,
unverantwortlich und unwirtschaftlich, von Nachbarn oder Gemeinschaft
unterstützen und Unterhalten lassen, weil sie verschmutzen oder
verderben, was immer in ihre Hände gerät. Ferner die sittlich
Verfallenden (Labilen), die in kranken Neigungen (Trunksucht,
Perversität, Eigentumsverbrechen), immer wieder die Notwendigkeiten
der Gemeinschaft stören, hemmen und verletzen.“ (S. 52f.)
Doch nicht nur
Sterilisation befürwortet Frenssen. Er rechtfertigt ausdrücklich,
die nationalsozialistischen (Massen)Morde (Etwa in der
T4-Aktion). Er führt jene bewußt
undeutlich umrissenen Kategorien von unerwünschten Menschen an, nach
denen zu Zehntausenden Menschen vergast, zu Tode gespritzt und
erschossen wurden. Unter dem Begriff „Volksfeinde aus krankem
Willen oder um Geld“ lassen sich zum Schluß alle sonstigen dem
Regimes unliebsamen Gruppen von Menschen zusammenfassen, wobei mit
dem Hinweis auf das „Geld“ sich eine Beziehung zum Antisemitismus ergibt (in
Sinne der Wahnvorstellung eines „Internationalen
Finanzjudentums“):
„Die aber, die unheilbar sind und so
schwer krank, daß ihr Leben für sie selbst kein Menschenleben mehr
ist, die auch in der Gemeinschaft der Menschen nicht mehr mitleben
können, Mensch mit Mensch, sollen nach germanischem Gefühl für das
Wahre, mit ihrer Billigung oder nach dem Willen der Gemeinschaft,
ausgelöscht werden. Solche Kranke sind die völlig verkrüppelten
Neugeborenen, die unheilbaren Idioten, die unheilbar Irren. Ferner
die gebornen Mörder, Rohlinge (Gewalttäter), Einbrecher, Diebe,
Arbeitsunwillige, Herumstreicher, Volksfeinde aus krankem Willen oder
um Geld. [...] Es ist dem
germanischen Gewissen unwahr und unrecht, sie weiterhin die
Volksgemeinschaft schädigen zu lassen, wahr und recht, sie
auszulöschen.“ (S.53f.)
Diese Maßnahmen
haben einen nach innen, aber auch einen nach außen gerichteten Zweck:
„Die heiße Sorge um die biologische
Gesundheit ist auch notwendig wegen der tödlichen Gefahren, die von
außen, von andern Völkern her, über das Volk kommen können. Denn
das Volk muß sich vor Augen halten, daß jedes andre Volk, nah oder
fern, heute noch friedlich, morgen zum Tiger werden kann, der ihn und
seine Kinder frißt. Das Volk muß auch
wissen, daß der Tag kommen kann, da es sich Raum schaffen muß, wo
immer auf der Erde für seine Rasse und seine Freunde. Denn es hält
sich wert, zu menschenwürdigem Dasein Raum zu haben auf der Erde,
die Raum für Alle hat.“ (S. 92)
Hatte Frenssen
noch in „Recht oder Unrecht“ von 1940, vor dem Überfall auf die
Sowjetunion, die Behauptungen der Gegner Hitlers, er plane eine
dauerhafte Unterwerfung, Versklavung bzw. Ausrottung der europäischen
Völker durch einen „Lebensraum“-Krieg als Lüge zurückgewiesen (
Generalplan Ost),
rechtfertigt Frenssen hier die Eroberung neuen „Raumes“ auf
Kosten anderer. Er macht zugleich diese anderen (nicht-germanischen)
Völker verantwortlich, die dem deutschen Volk den Raum beschnitten
hätten („der ihn und seine Kinder frißt“), und begründet die
Berechtigung des „Eroberungs(- und Vernichtungs)krieges des
„Dritten Reiches“ mit der nur vermeintlich friedlichen Formel,
daß die „Erde [.] Raum für alle“ habe.
„Damit das Volk, nach dem göttlichen
Drang und Willen, in seiner Gesamtheit auf dem Weg des Wahrgutschönen
rüstig fortschreite, und also gesund sei und bleibe, und blühe, wer
soll im Volk die Führung haben? [...] Nicht eine Demokratie
(Herrschaft der Gesamtmasse); [...] Sondern eine Agathokratie. Die
Herrschaft des Guten (der Gutwilligen). [...] Und wie wird der immer
Bessere gefunden? Nicht durch Reden und Gegenreden. Nicht durch
Wahlzettel. Nicht durch Lärm und Zwang. Sondern durch stilles
Entscheiden, innerhalb der Arbeitsgebiete, von unten nach oben. Und
dann der Arbeitsgebiete untereinander ... Und zuletzt ist der Beste
zu finden.
Und dem ist alle Gewalt zu geben. [...]
Einer muß sie haben, damit das Nötige geschähe, und bald und
völlig ... so ist es in einem Volke. Und in keinem nötiger als im
deutschen, das voll bunter Geister, und von Gott verantwortlich
gemacht, Herz, Hirn, und Schwert zu sein für den buntesten Erdteil.
In dieser Zeit ist die Führung in den
Händen des Besten, und wird es bleiben, solange er lebt. Er hat
auch, nach seinem unsagbaren Verdienst um sein Volk, das Recht, den
zu bestimmen, der nach ihm die Führung haben soll. Er soll auch
noch, wenn er ihn erkennt, aus dem Geschlecht der jungen Helden, den
nennen, der danach die Führung haben soll. Wie danach, wenn dies
Geschlecht dahingegangen, im Einzelnen der Führer gefunden werden
soll, wird seine Weisheit wissen und uns sagen.“ (S. 96-99)
Frenssen ist ein
unversöhnlicher Gegner der Demokratie. In der totalen Diktatur des
„Besten“, als den er Hitler ansieht, im „Führerprinzip“,
verwirkliche sich seine Ideologie, nach der die Deutschen auch über
Europa herrschen sollten. Seine Verehrung Hitlers ist so groß, daß
er diesem auch noch die Festlegung seines Nach-Nachfolgers aus den
„jungen Helden“ (den Weltkriegssoldaten) übertragen will.
Fazit:
Die
radikale Propaganda Frenssens umfaßt in der „Lebenskunde“ die
breite Palette des nationalsozialistischen Rassenwahns mit ihrer
ganzen Konsequenz. Im Jahr 1942 waren bereits hunderttausende Frauen
sterilisiert, hunderttausende Behinderte, Kranke oder „Volksfeinde“
ermordet und Millionen Menschen im „Lebensraum“-Krieg
getötet worden. Im Januar 1942 regelte die
Wannsee-Konferenz den
Ablauf des fabrikmäßigen Mords an den Millionen europäischen
Juden, den Hitler in einer Rede vom 30. Januar 1939 „prophezeit“
hatte. Frenssens Überzeugung von, und aktive Rolle bei der
Rechtfertigung dieser Ziele ist unleugbar und macht eine
„Gustav-Frenssen-Straße“ unhaltbar.
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