Im zweiten Band seiner
„Grübeleien“, der Notizen der Jahre 1906 bis 1920, finden sich
zahlreiche Äußerungen Frenssens (Siehe unten [A-G]) noch aus der Zeit
des Kaiserreiches, die seine biologistischen Vorstellungen
verdeutlichen. Sie zeigen, warum Frenssen sich ab Ende der
1920er Jahre und nach 1933 so klar zur nationalsozialistischen
Ideologie bekannte und entsprechende Propagandaliteratur beisteuerte.
Frenssen dachte demnach schon
im Kaiserreich daran, dass in die Rechtsprechung eine Art
„Asozialen“-Paragraph eingeführt werden sollte, um Menschen zu
verurteilen, die wegen ihrer „kranken Natur“ das zerstören
würden, was die Gesunden aufbauten [A]. Er mochte die Behandlung
dieser Menschen durch den Staat aber nicht als „Strafe“ oder
„Verurteilung“ bezeichnen, da diese Menschen „wie tollwütige
Hunde“ und aus „krankhaftem Trieb“ handelten [B]. Als Maßnahmen
sah er „kastrieren“/„entmannen“ [B, D] und lebenslange
„Schutzhaft“ [B, G] vor.
Die letzten Konsequenzen
des Grundgedankens folgten nur wenig später: Schon zu Beginn der
Weimarer Republik – im Jahre 1923 - , kann er diese in seinem als
Zukunftsvision geschriebenem „
Tagebuch von 2023“ an den Tag
legen. Darin forderte er, dass „Asoziale“ zum „Tode“ oder zu
„lebenslanger Zwangsarbeit“ im Lager verurteilt würden, wo wenn
sie stürben, einige „Wertlose“ weniger wären (
„Vorland“(1937), S. 67). Im Nationalsozialismus schließlich propagierte er
das Realität gewordene mit größtmöglicher Radikalität und
Offenheit: „Unheilbar Krankes, sich selbst und der Gesamtheit nur
Last und Not, soll ausgelöscht werden“ (
„Lebenskunde“ (1940),
S. 91).
Das inhaltlich Gegenstück zur Vernichtung 'lebensunwerten Lebens' besteht darin, dass er einem „blassen und schmalen Dr. X.“ rät, das
„breiteste“ Bauernmädchen zu heiraten um lebenstüchtige
Nachkommenschaft zu zeugen [C], oder wünscht, Goethe hätte mehr
Kinder gezeugt [D]. Was heute vielleicht amüsant bis harmlos klingt, ist letztlich die andere Seite der eugenischen Medaille. Es gehört zu seiner
scharfen Kritik der Kirche und der bürgerlichen Moral, dass sie
eheliche Verbindungen nicht nach den „uralten, neugefundenen,
biologischen“ Gesetzen schlösse, sondern „jeden Schmutz“
segnen würde [E]. Kurz nach der deutschen Niederlage im Ersten
Weltkrieg wünscht er sich, dass „eine überragende, geniale,
internationale Erscheinung wie Jesus, Leibnitz oder Goethe“
auftreten möge, die den Ideen der „Biologie“ und „Eugenik“ -
gewissermaßen als Prophet - zum Durchbruch verhelfen möge [F].
Auszüge:
[A]
„Es gibt viele
Menschen, auf deren Lebensweg nichts als Trümmer liegen. […]
Frauen weniger. Eine weiß ich, die alles versaut hätte; sie stammte
aus einem zerstörenden Geschlecht; aber sie bekam von ihrem
tüchtigen Mann Prügel und mußte neben ihm aufbaun, dreißig Jahre
lang, Stein ordentlich auf Stein setzend. Eine Sklavin. Ein Fünftel
der Menschen sind Sklaven, viele, leider, in Freiheit. Sie sind
asozial, ja antisozial, ja ruinös, genau in derselben Weise wie
Gewohnheitsverbrecher. Und sind auch in ihrem Wesen nichts anderes,
nämlich, wie jene, einer kranken Natur unterworfen, nur daß die
Justiz diese Art Verbrecher nicht in ihre Zettelkästen und
Paragraphen aufgenommen hat.“
(S. 43)
[B]
„Von den Insassen der
Zuchthäuser in Deutschland sind ein Zehntel mit Recht da […] Ein
zweites Zehntel ist zu Unrecht da; [../..] Die übrigen acht Zehntel
sind auch zu Unrecht da. Es sind Kranke, Dekadente, die mit ihren
Taten subjektiv richtig gehandelt haben, ich meine, ihrer Natur
gemäß. Die „Zucht“, das Strafen, das Ziehen und Zerren an
ihnen, ist Unzucht, Unrecht, zwecklos. Sie sind, wie sie sind, von
Natur. Sie sind nicht schlecht, sind unheilbar krank, verkrüppelt.
Sie sind ebensowenig schlecht, wie tollwütige Hunde. Sie sind durch
ihre Krankheit schädlich; sie beißen, nicht aus Schlechtigkeit,
sondern aus Krankheit, aus innerem, krankhaftem Trieb. Die gehören
nicht in Strafhäuser, sondern in Krankenhäuser, Schutzhäuser. Wenn
man festgestellt hat, daß ein Mensch eine asoziale oder antisoziale
Krankheit hat, so muß er zuerst kastriert und dann in Schutzhaft
genommen werden, und zwar zeitlebens.“
(S. 52-53)
[C]
„Meine Vorfahren waren
um 1720 noch Bauern, die väterlichen in der Marsch, die mütterlichen
im Geestdorf. Um die Zeit verloren sie, wohl durch sich vererbende
und sich steigernde Neigung zum geistig Seltsamen, die sie auch
seltsame Weiber wählen ließ, - meine Mutter war auch eine seltsame
-, die sichere Selbstverständlichkeit des bäuerlichen Menschen; sie
standen nicht mehr im Leben, sondern betrachtend daneben. So verloren
sie ihr Land. Ich habe dem blassen und schmalen Dr. X heute geraten,
die breiteste Bauerndeern zu heiraten, die er finden könnte. Wenn es
auch Lärm und Scherben gibt, so gibt es doch ein Geschlecht, das dem
Leben wieder gewachsen ist. Das Leben ist hart“
(S. 247)
[D]
„Ein kluger Mann
erzählte mir, daß er in Thüringen reisend, im Zuge einen jungen
Mann gesehn, der in seiner / ganzen Erscheinung Goethe ähnlich
gewesen, und meinte, daß da wohl mehr als einer von Goethes Blut in
Thüringen und da herum lebte. Ich denke, daß es in der Tat so ist,
und sage: „Schade, daß es nicht mehr sind. Es wird eine Zeit
kommen, wo man im Namen der Religion und Sittlichkeit die mit
schlechtem Erbe Behafteten entmannen, und von einem Mann wie Goethe
viele Kinder fordern wird.““ (S. 248)
[E]
„Die Kirche brüstet
sich und prahlt: „Ich schütze die Ehe!“ Und sie traut und
segnet; und segnet alles, jeden Schmutz. Denn was ist es anderes als
Schmutz, wenn Geld zu Geld oder / Armut zu Geld läuft, oder gesund
zu krank, oder krank zu gesund? Sie fragt nicht: was bringt diese
Menschen zusammen? und fragt nicht: wird das Zusammenleben dieser
beiden sittlich gut, auch nicht, ob sie ein gesundes Geschlecht
zeugen werden. Die Kirche weiß nicht, daß Gott und Natur, Gott und
Lebensgesetze, Gott und gesund an Leib und Seele, zueinander gehören.
Sie muß immer wieder lernen: die Gebote Gottes sind nicht die alten,
die zehn, sondern die viel, viel älteren, die uralten, die
neugefundenen, die biologischen (S. 250-251)
[F]
„Die ganzen
Bestrebungen, die sich mit Biologie, Eugenik, innerer und äußerer
Gesundung der Menschheit sammeln, sind reif für eine überragende,
geniale, internationale Erscheinung wie Jesus, Leibnitz oder Goethe.
Die Idee von dem rechten Menschen? Viele, die gegen das Ästhetische
schreiben, wollen dafür das Moralische setzen. Das ist nicht
richtig. Man muß das Biologische dagegensetzen. Dann könnte man
recht haben.“ (S. 273)
[G]
„Wie kann man vor einem
geistig Abnormen von „Strafe“ reden, an Strafe denken, auf Strafe
urteilen, ihn „verurteilen“? Nun sind aber vier fünftel aller
Verbrecher nichts als geborne Abnormitäten. Alle Mörder sind es,
alle Gewohnheitsverbrecher und Gewohnheitsdiebe, alle sexuell
Perverse, alle die auf hysterischer Grundlage Ungesellschaftliches
tun. Man soll alle diese, je nach dem Grad der Gefährdung, die sie
für das Volksganze haben, in Schutzhaft halten. Aber keine Gerichte,
keine Schande, keine Strafe für sie. Geistige Abnormitäten
bestrafen ist ebenso unmenschlich, als wenn man körperlich Kranke
als solche bestraft: Tuberkulose, Syphiliter usw.“ (S. 290)